Petra Kaltenmorgen – René Zechlin

Katalog Petra Kaltenmorgen, Text von René Zechlin, 2017
Herausgeber: Siftung Niedersachsen, 2017

Petra Kaltenmorgen

von René Zechlin

Odradek oder die Wahrnehmung der Alltäglichkeit der Dinge

„[…] Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen, wenn es nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek heißt. Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinander geknotete, aber auch inein­ander verfilzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen.
Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher irgendeine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein; wenigstens findet sich kein Anzeichen dafür; nirgends sind Ansätze oder Bruchstellen zu sehen, die auf etwas Derartiges hinweisen würden; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen. Näheres läßt sich übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist.
Er hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen, im Flur auf. Manchmal ist er monatelang nicht zu sehen; da ist er wohl in andere Häuser übersiedelt; doch kehrt er dann unweigerlich wieder in unser Haus zurück. Manchmal, wenn man aus der Tür tritt und er lehnt gerade unten am Treppengeländer, hat man Lust, ihn anzusprechen. Natürlich stellt man an ihn keine schwierigen Fragen, sondern behandelt ihn – schon seine Winzigkeit verführt dazu – wie ein Kind. »Wie heißt du denn?« fragt man ihn. »Odradek,« sagt er. »Und wo wohnst du?« »Unbestimmter Wohnsitz,« sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern. Damit ist die Unterhaltung meist zu Ende. Übrigens sind selbst diese Antworten nicht immer zu erhalten; oft ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu sein scheint.
Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche.“ 1
Der kurze Text „Die Sorge des Hausvaters“ von Franz Kafka, von dem hier nur der erste Absatz nicht wiedergegeben wurde, in dem Kafka sich Gedanken macht, aus welcher Sprache das Wort ‚Odradek‘ wohl stammt, gibt seit seiner Entstehung 1919 Rätsel auf. Was möchte Kafka uns mit diesem seltsam widersprüchlichen Text sagen? Seine Beschreibung von Odradek als „sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen“ sowie seine abschließenden Überlegungen, ob etwas ohne Ziel und Tätigkeit überhaupt sterben und damit die menschliche Existenz vielleicht sogar überleben könne, führte zu der wiederholten Interpretation des Textes als Frage nach dem Sinn – sowohl nach dem Sinn des Lebens, der Existenz, als auch der Infragestellung eines Sinns an sich.
Die hinter dem Text stehenden Fragen und deren Interpretation sind jedoch nicht in erster Linie der Grund, weshalb Kafkas Text den Einstieg in das Werk Petra Kaltenmorgens begleitet. Es ist vielmehr Kafkas Blick auf den Gegenstand und der Prozess einer sich beim Lesen verändernden Wahrnehmung, die aufschlussreich für die folgenden Betrachtungen sind, wenn sie nicht sogar Parallelen in der Denk- und Wahrnehmungsweise Petra Kaltenmorgens aufweisen.
In nüchterner Genauigkeit beschreibt Kafka ein Objekt, das eher zufällig entstanden zu sein scheint. Eine Verknotung von Dingen, wie sie des Öfteren in Kramschubladen, im Keller oder auf Dachböden, Treppenhäusern oder Hausfluren entsteht. Ein sinnloses Etwas, das aufgrund seiner skurrilen Form unsere Sympathie erlangt. Die besondere Aufmerksamkeit, die Kafka dem unbestimmten Etwas zukommen lässt, betont er gleich zu Beginn, indem er das Etwas beim Namen nennt, wenn auch unklar bleibt, ob das der persönliche Name oder ein Gattungsbegriff des ‚Wesens‘ ist. Mit der Benennung erhebt Kafka das Ding auf die gleiche Ebene wie alle anderen Dinge und gibt dem sinnfreien Etwas überhaupt erst eine Existenz- und Daseinsberechtigung. Dem nicht genug, erlangt das Etwas bei Kafka schrittweise ein Eigenleben. Er spricht mit dem kleinen Etwas und macht sich über dessen Existenzform Gedanken. Assoziationen mit dem Blick eines spielenden Kindes legt er selbst in dem Text an. So ist es gar nicht die Frage, ob das von Kafka beschriebene Ding – das, obwohl es für uns ganz neu ist, doch eindeutig nicht organisch ist und daher nicht sprechen kann – ob dieses Ding nun tatsächlich spricht, oder es doch eher nur in Kafkas Phantasie antwortet. Bei einem spielenden Kind kann jeder beliebige Gegenstand ein Eigenleben und eine eigene Existenz erlangen. Der Gegenstand ist dabei – in der Wahrnehmung des Kindes – nicht Stellvertreter für etwas, sondern lebt, fühlt und spricht tatsächlich. Durch die Wahrnehmung des Gegenstandes und die Entdeckung seiner rätselhaften Poesie erweckt Kafka Odradek zum Leben. Die Widersprüchlichkeit und Unmöglichkeit der Existenz lässt sie jedoch so gleich wieder zerfallen.
Dieser besondere Blick auf die Dinge, der ein alltägliches Objekt in eine andere Existenz überführt und unserer vertrauten Wahrnehmung ein anderes Etwas entgegensetzt, das in seiner Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit kaum greif- oder bestimmbar ist, ist für das Werk von Petra Kaltenmorgen sehr wesentlich. Sie begann die Entwicklung ihrer künstlerischen Wahrnehmung und Sprache noch während des Studiums Anfang der 1990er Jahre mit Objekten und Installationen. Ab Mitte der 1990er Jahre nutzte sie das Medium der Fotografie. Die Auseinandersetzung mit dem Objekt und dessen Verhältnis zum Raum blieb aber ein wesentliches Thema ihrer künstlerischen Auseinandersetzung. So entwickelte sich in knapp drei Jahrzehnten im Werk von Petra Kaltenmorgen ein spannungsvolles Wechselspiel zwischen Objekt, Raum, seiner künstlerischen Wahrnehmung und der dreidimensionalen wie fotografischen Präsentation, das in den folgenden Kapiteln näher dargestellt und beleuchtet werden soll. Das durchgehende künstlerische Mittel ist der transformierende Blick auf die Alltäglichkeit der Dinge, der die Wahrnehmung im Raum lenkt oder sich in der Fotografie manifestiert und den Betrachter ein anderes ‚Wesens‘ erkennen lässt.

1 Franz Kafka, „Die Sorge des Hausvaters“, in: Ein Landarzt, Kleine Erzählungen, Kurt Wolff Verlag, München, 1919, S. 95 ff.

Das Objekt, der Betrachter und der Raum

Noch während des Studiums an der Fachhochschule Hannover bei Rolf Bier, Ralph Kull und Heinrich Riebesehl entstanden in der Zeit von etwa 1991 bis 1993 eine ganze Reihe von Objekten und Installationen, die äußerst aufschlussreich für das Gesamtwerk und die künstlerische Wahrnehmung und Sprache von Petra Kaltenmorgen sind. Die durch die Transformation alltäglicher Gegenstände entstandenen Objekte erscheinen wie zeitgenössische Variationen des Wesens „Odradek“ von Franz Kafka. In einer Reihe von Objekten integriert Kaltenmorgen zum Beispiel alte, abgenutzte Seifenstücke in ihre Objekte. Den kleinen, durch den langen tagtäglichen Gebrauch ganz flach gewordenen Seifen­stücken sind die Spuren der vielen Hände, die sie gehalten, ganz offensichtlich anzusehen. Sie wurden porös und rissig, fransen an den Kanten aus und wirken unansehnlich, ja fast schmutzig, obwohl sie doch immer der Reinigung gedient haben. Sie gehören zu den Dingen des täglichen Gebrauchs, die man akzeptiert, aber aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit kaum wahrnimmt. Petra Kaltenmorgen nimmt einen anderen Blick auf die Seifenreste. Sie sieht die Personen, Geschichten und Tätigkeiten, die mit jedem Händewaschen verbunden sind und die die Seifenstücke in sich tragen. Die Künstlerin erkennt auch die Zeit, von der die Seifenstücke erzählen: Von der Zeit ihrer Abnutzung, aber auch der Zeit unserer Kindheit, unserer Eltern oder Grosseltern, von grünen Waschbecken und bräunlichen Badezimmerkacheln, da sie bereits Anfang der 1990er Jahre zunehmend von der anonymen, geschichts- und charakterlosen Flüssigseife ersetzt wurden. In Petra Kaltenmorgens ­Objekten werden die Seifenreste zu Kleinoden. Wie Edelsteine eingesetzt in eine aus Ton modellierte Krone, „o. T.“ (1991), oder eingebettet in zwei Halbkugeln aus eingefärbtem Gips, „o. T.“ (1991), erscheinen sie nun wie der fruchtbare Kern einer edlen Frucht, die die konzentrierte Vergangenheit in sich birgt.
Wenig später entstehen zwei Installationen, die ein weiteres künstlerisches Interesse von Petra Kaltenmorgen verdeutlichen, das auch für ihre spätere Arbeit von Bedeutung sein soll: Das Verhältnis von Objekten zueinander und ihr Verhältnis zum Raum. In „Kosmos“ (1992) und „o. T.“ (1993) sind dicke Garnspulen die Akteure im Raum. Ich bezeichne sie bewusst als Akteure, da sie durch das Arrangement von Kaltenmorgen, ähnlich wie „Odradek“ in Kafkas Beschreibung, vom Objekt zu einem Akteur in einem Beziehungs- und Spannungsverhältnis werden. Bei „Kosmos“ (1992) arrangierte sie acht unterschiedliche, dicke Garnspulen auf dem Boden zu einem ungleichmäßigen Kreis. Die Spulen unterscheiden sich nicht nur in Form und Farbe, auch ihre Anordnung erscheint auf den ersten Blick eher zufällig. Zwei sind etwas aus dem Kreis gerückt, eine Spule steht dagegen der Mitte etwas näher. Schon allein die Anordnung stellt sie in Beziehung. Unweigerlich komplettiert der Betrachter den vollkommenen Kreis vor dem inneren Auge und stellt gleichzeitig die Abweichungen fest, die die Vorstellung des Kreises nicht in Frage stellen, sondern eine Form der Dynamik, der Bewegung in die Installation integrieren. Dieses Spannungs- und Beziehungsverhältnis betont Kaltenmorgen kaum sichtbar, indem sie alle Spulen mit ihren jeweiligen Garnen miteinander verknüpft und sie, planetengleich, scheinbar um ihre Mitte kreisen lässt. In der Mitte des Kreises verdichten sich die Fäden zu einem Knäuel, das, durch die Spulen gespannt, über dem Boden schwebt. Es entsteht eine fragile dynamische Balance, die jederzeit aus dem Gleichgewicht geraten und das fast unsichtbare Beziehungsgeflecht und Spannungsverhältnis aus dem Gleichgewicht bringen kann.
„o. T.“ (1993) bezieht den Ausstellungsraum in die Installation mit ein und adressiert den Betrachter direkt. Zahlreiche Garnspulen stehen in einem rechten Winkel auf dem Boden und bilden einen kompositorischen Pol. Den Gegenpol bildet ein kleines Geweihschild, dessen Geweih entfernt und auf Augenhöhe an der Wand montiert wurde. Von allen Spulen führen die jeweiligen Garne in die zwei Löcher des Geweihschildes, in denen ursprünglich das Geweih befestigt war. Wie Vektoren definieren sie den Raum zwischen dem rechten Winkel der Garnspulen und dem Geweihschild und setzen beide kompositorische Pole miteinander in Beziehung. Die Öffnungen des Geweihschildes nehmen wie zwei Augen aber auch den Betrachter in den Blick und vervollständigen die Beziehung zwischen Betrachter, Objekt und Raum. Visualisieren die gespannten Garne ihren Bezug zur Wand und damit zum Raum direkt, so definiert der Blick des Geweihschild-Gesichtes das Verhältnis des Betrachters sowohl zum Raum als auch zu den Garnspul-Objekten, die vor seinen Füßen auf dem Boden stehen und nun wie seine Stellvertreter erscheinen.
Die Thematisierung des Betrachters und die Lenkung dessen Blicks sollte für das fotografische Werk von Petra Kaltenmorgen von großer Bedeutung werden. Eine interessante Schnittstelle zwischen den Rauminstallationen und den Fotografien der Künstlerin bildet eine Serie von Installationen, die sie 1993 in einem Bunker machte. Die Inszenierungen alltäglicher Haushaltssituationen in einem Bunker deuten Geschichten mit kafkaesken Anmutungen an. Der Wäscheberg auf dem Boden der Installation „o. T.“ (1993) könnte vielleicht noch zufällig so aufgefunden worden sein. Die anderen Szenen der Installation jedoch erwecken den irrealen Eindruck, als hätte hier jemanden gerade erst den Raum verlassen. Die Wäsche liegt sauber gefaltet im Hintergrund auf einem Brett, das lapidar, improvisiert auf einem Versorgungsrohr abgelegt ist. Im Vordergrund steht noch das Bügeleisen auf dem Brett zusammen mit einem Kleidungsstück, das auf die Glättung wartet, in dem sonst leeren, fensterlosen Raum. Die kleinbürgerliche Szene steht in größtmöglichem Gegensatz zur räumlichen Situation: Sollte hier wirklich jemand gelebt haben, sei es zum Schutz vor Bomben oder um aufgrund von Wohnungslosigkeit Unterschlupf zu finden, so wird er sich nicht um frisch gebügelte Wäsche gesorgt und gekümmert haben. Die Kinderspielsituation bei „o. T. “(1993) könnte man sich schon eher im Bunker vorstellen. Die selbstverständliche Beiläufigkeit, mit der die Dinge in den dreckigen Räumen des Bunkers und seiner dunklen Geschichte arrangiert sind, ruft einen befremdlich absurden Eindruck hervor. Wesentlich für unsere Rezeption der Rauminstallationen ist aber die Art ihrer fotografischen Dokumentation. Vielleicht wären wir an dem Wäscheberg einfach achtlos vorbei gegangen, würde die fotografische Dokumentation ihn nicht ins Zentrum rücken und ihm mit dem Blick durch die Tür einen Rahmen geben. Auch beim Blick in das Bügelzimmer löst die Fotografie den Raum aus seinem Kontext und evoziert damit die wesentlichen Fragen beim Betrachter: Wo ist das? Ist der Bewohner vielleicht in einem anderen Raum? Wie sehen die anderen Räume aus? Am deutlichsten wird es bei den Dokumentationen der Szene mit Spielzeugautos. Die Fotografie betont die Übermächtigkeit des Bunkerraumes, der die kleinen Autos förmlich zu erdrücken scheint. In den Rauminstallationen im Bunker formuliert Petra Kaltenmorgen eine Idee im Raum, die die Fotografin Ricarda Roggan, ohne davon zu wissen, etwa 10 Jahre später fotografisch umsetzt. Für die Serie „Stuhl, Tisch und Bett“ ließ Roggan einen ebenso fensterlosen Raum bauen, in dem sie einzelne alte Möbel arrangierte und damit Assoziationen zu verlassenen Stasi-Gefängnissen hervorrief.
Petra Kaltenmorgen bezeichnet die Arbeiten im Bunker selbst als Rauminstallationen. Doch gerade hier wird die Bedeutung ihres künstlerischen Blickes deutlich. Die Weise, wie die Künstlerin auf ihre plastischen Werke blickt, die Perspektive, die sie einnimmt, die Bestimmung der Lichtsituation und der Atmosphäre, die sie vor Augen hat, ist ein wesentlicher Schlüssel der Wahrnehmung und des Verständnisses ihrer Arbeiten. Mit den Installationen im Bunker und ihrer fotografischen Dokumentation sollte dieser Blick zum Kern ihres Werkes werden.

Fotografie versus Gegenstand

Das Verhältnis von Objekt, Raum und Abbild lotet Petra Kaltenmorgen sicherlich am spannendsten in den Schwarzweißserien der „Blind Fields“ (1997–99) und der Serie „Objects“ (1994–2001) aus. Bei der Serie der „Objects“ nützt die Künstlerin das Medium der Fotografie nicht nur zur Abbildung oder Dokumentation von Objekten, sondern die Fotografie wird selbst zum Objekt. Bereits 1993 brachte sie das Objekthafte der Fotografie mit der Arbeit „o. T. (Tasse mit Bohrlöchern)“ [S. 21] auf den Punkt. In die auf Holz aufgezogene Fotografie einer Tasse bohrte sie drei Löcher und entledigte damit das Abbild jeglicher fotografischer Illusion. Die Fotografie entpuppt sich als das, was sie ist: Als Bild auf Holz. In der Serie „Objects“ fotografierte Kaltenmorgen nun zahlreiche Dinge des alltäglichen Lebens: Ein Buch, eine Vase, eine Blume oder ein Einkaufswagen bis zu einer Pfanne oder einer Eieruhr in Form einer Zitrone. Die Gegenstände haben für sich genommen keine besondere Bedeutung. Jeder Betrachter könnte sie bei sich zu Hause oder in seiner direkten Umgebung finden. Wie verhält sich der Gegenstand jedoch im Moment seiner fotografischen Repräsentation? Petra Kaltenmorgen hat darauf eine interessante Antwort. Alle Objekte fotografiert sie formatfüllend vor neutralem weißem Hintergrund. Die jeweils äußersten Punkte des Objektes berühren den Rand der rechteckigen Fotografie und bestimmen damit auch ihr Seitenverhältnis. Die Abbildung einer Vase ist beispielsweise ein schmales Hochformat, die eines Zollstocks dagegen ein schmales Querformat. Die Fotografie schneidet jeglichen Umraum und damit auch Kontext ab und konzentriert sich ganz allein auf den Gegenstand. Jeder Gegenstand ist mit gleicher Neutralität und Aufmerksamkeit aufgenommen und erhält genau die notwendige Repräsentationsfläche. Nicht mehr und nicht weniger. Das Objekt und sein Abbild scheinen in Eins zu fallen.
Aber ist dies tatsächlich so? Gerade dadurch, dass sie die fotografischen Mittel auf das Notwendigste begrenzt und sich scheinbar ganz dem Objekt unterordnet, führt sie vor Augen, dass es eine fotografische Neutralität nicht gibt. Einerseits entsprechen die Größen der Abzüge nicht den Größen der Gegenstände. Ein Stück Zwieback wird deutlich größer, ein Einkaufswagen etwas kleiner. Viel wesentlicher ist aber die verwendete Perspektive und damit der Blick, den die Künstlerin auf das Objekt nimmt. Die dreiteilige Arbeit „o. T. (Pfanne)“ (1994) [S. 22] zeigt ein- und dieselbe Pfanne aus drei verschiedenen Blickwinkeln. In Kaltenmorgens fotografischem System kommen demselben Gegenstand auch drei unterschiedliche Flächen zu. Die Umsetzung des dreidimensionalen Objekts in seine zweidimensionale Entsprechung erfordert eine entsprechende Fläche, die sich je nach Blickwinkel unterscheidet. Das Bild ist nicht Abbild, sondern eigenständiges Objekt. Die Serie kommt daher der Skulptur vielleicht sogar näher als der Fotografie. Kaltenmorgen nützt nur das Medium der Fotografie, um plastisch zu arbeiten und aus dem Vorbild ein neues Objekt zu schaffen.
Die 1997–99 entstandene Serie der „Blind Fields“ erscheint wie ein Gegenentwurf zur Serie der „Objects“. Erhalten die Fotografien der „Objects“ eine eigene plastische Präsenz, indem die Fotografie selbst zum Objekt wird, so wird dem Objekt bei der Serie der „Blind Fields“ jegliche Plastizität genommen und scheint in der Fotografie zu verschwinden. Verschiedenste weiße Gegenstände fotografierte sie vor weißem Hintergrund. Auch hier verwendet die Künstlerin die Fotografie, um dem Gegenstand jeglichen räumlichen Kontext zu nehmen. Diesmal nicht, indem der Raum um das Objekt weggeschnitten wird, sondern mit Hilfe einer weißen Hohlkehle, auf der die Objekte fotografiert werden, mit der fast vollständigen Reduktion jeglicher Schatten und Kontraste, eliminiert Kaltenmorgen jegliche Räumlichkeit und lässt die Gegenstände vor weißem Hintergrund schweben, ja löst die Gegenstände im undefinierten Raum auf. Der Gegenstand erscheint nur noch als „Schatten“, nein, eigentlich als dessen Gegenteil, als „Lichtbild“.
Die Serie der „Blind Fields“ steht am Anfang mehrerer Werkserien, in denen sich die Künstlerin mit den Grenzen des Bildes beschäftigt. Ab wann beginnt ein Bild, Bild zu sein? Und ab wann hört es auf, als Bild zu funktionieren? Wieviel Bildinformationen sind notwendig, um zu erkennen, zu erinnern, im Bewusstsein zu behalten? Der zentrale Ansatz von Kaltenmorgen innerhalb der Serien „Blind Fields“ (1997–99), „Déjà Vu“ (2001) und „GegenLicht“ (2001–03) ist das Licht. Als zentrales Moment unseres Lebens hat das Licht auch schon immer eine große symbolische Bedeutung. In seinem Höhlengleichnis verknüpft Platon erstmals die Bedeutung des Lichts als wesentliche Energiequelle des Lebens mit der symbolischen Bedeutung der Erkenntnis. In dem Gleichnis sehen Höhlenbewohner nicht die reale Welt, sondern Schatten der realen Welt an den Wänden. Diese Platonischen Schatten sind bereits eine Interpretation von Fotografie, Jahrtausende bevor die Fotografie erfunden wurde. Die Schatten sind ein Negativbild, ein Abbild der Wirklichkeit, das von den Höhlenbewohnern, da sie nichts anderes kennen, als real angesehen werden. Als sie nun aber gezwungen werden, die Höhle zu verlassen, um die reale Welt draußen vor der Höhle zu entdecken, blendet sie die Sonne dermaßen, dass sie nichts zu erkennen vermögen und in der Höhle verbleiben möchten. Erst langsam, als sie sich an das Licht gewöhnt haben und mit ihm umzugehen wissen, können sie die reale Welt erkennen. Das Licht der Erkenntnis und Wahrheit blendet und schmerzt und verhindert eventuell sogar überhaupt die Möglichkeit des Erkennens.
Platons Höhlengleichnis bringt genau die Ambivalenz des Lichts auf den Punkt, in der sich Kaltenmorgen mit den Serien „Blind Fields“ (1997–99), „Déjà Vu“ (2001) und „GegenLicht“ (2001–03) bewegt. Ebenso wie das Licht etwas sichtbar macht, sei es die reale Welt, das Negativ in Form von Schatten oder durch die Belichtung eines Fotofilmes, so lässt zu viel oder zu wenig Licht uns auch gar nichts erkennen. Wo sind hier die Grenzen? Ähnlich wie bei der Serie „Blind Fields“ das eigentliche Motiv sich in Licht und Raum auflöst und zu verschwinden beginnt, verschwinden in der Serie „GegenLicht“ (2001–03) die Gesichter einzelner Personen in der blendenden Sonne. Mit der Serie porträtierte Petra Kaltenmorgen eine Reihe von Personen, die sie kennt oder denen sie zufällig auf der Straße begegnet ist und angesprochen hat. Alle Personen sind im Gegenlicht mit ‚falscher‘ Belichtungszeit aufgenommen. Das Licht überstrahlt die Gesichter so, dass wir die Personen bei naher Betrachtung zwar noch erkennen, das spezifische Porträt aber gleichzeitig wieder verschwimmt. Der Künstlerin gelingt es, gerade die Zeitlichkeit und Flüchtigkeit des Gegenübers einzufangen. Das Motiv, das Objekt der Fotografie, ist zu erkennen, verschwindet aber sofort wieder aus unserem Bewusstsein und unserer Erinnerung, wie ein Passant, den wir kurz bemerkt, vielleicht sogar angesehen, aber im Moment des Passierens wieder vergessen haben.
Das Moment des Erinnerns, des Wahrnehmens des Unbestimmten ist auch Thema der Serie „Déjà Vu“ , (2001). Bestimmte bei „Blind Fields“ und „GegenLicht“ zu viel Licht die Fotografien, so scheint es hier zu wenig zu sein. Die Serie entstand ursprünglich anlässlich eines Stipendiums in Worpswede. Fotografisch wollte sich Petra Kaltenmorgen auf die Suche nach Momenten in der Landschaft machen, die sie an die Malerei von Paula Modersohn-Becker und der anderen Künstler zu Beginn des letzten Jahrhunderts in der Künstlerkolonie Worpswede erinnern würden. Welche Erwartungen haben wir allerdings an einen Ort, den wir nicht kennen? Wie stark prägen unsere Vorstellungen unsere Wahrnehmung? Die entstandene Serie „Déjà Vu“ geht weit über die Auseinandersetzung mit Worpswede hinaus und thematisiert genau diese Fragen der Erwartung, aber auch der Erinnerung. Die im Dämmerlicht aufgenommenen Schwarzweißfotografien geben nur schemenhaft Details der Landschaft wieder. Fast schwarz heben sich vor dunkelgrauem Himmel Bäume, eine Brücke oder ein Haus ab. Wo befindet sich diese Landschaft? Es könnte eigentlich überall sein. Die Dunkelheit schluckt jegliche Spezifik des Ortes. Wenn auch düster und unheimlich, so erscheinen die Bilder dennoch seltsam vertraut. Gerade da das fehlende Licht, die Dunkelheit, jegliche spezifischen Informationen eliminiert, könnten die Landschaften überall sein und regen unsere Erinnerung an. Es sind die Schatten, die uns vertraut sind, die aber sicherlich nicht die Wirklichkeit wiedergeben.
In den Serien setzt sich Petra Kaltenmorgen von verschiedenen Perspektiven mit den Voraussetzungen und Möglichkeiten der Fotografie auseinander. Sie befragt das Medium intensiv und geht mit ihm an die Grenzen. Was ist die Fotografie? Ein Objekt oder ein Abbild? Was benötigt ein Bild eigentlich? Was kann ein Bild auslösen oder bewirken?

Verschränkungen

Objekte, Rauminstallationen und Fotografie blieben bei Petra Kaltenmorgen nicht so klar getrennt, wie das vielleicht aufgrund der beiden vorhergehenden Kapitel den Eindruck macht. Es sind vielmehr parallel laufende Interessen und Ansätze, deren Ergebnisse einmal stärker skulptural, ein anderes Mal mehr fotografisch oder installativ ausfallen. Vielfach verschränken sich jedoch die unterschiedlichen Ansätze, Medien und Techniken zu einem interessanten Wechselspiel der Referenzen und gegenseitigen Befragungen.
Als ortspezifische Dialoge zwischen Fotografie und Raum lassen sich die Installationen „Mitgift“ (1999), „Welten“ (1998) und „Wallstreet“ (2000) bezeichnen. Die Installation „Mitgift“ (1999) entstand im Künstlerhaus in Göttingen, dessen Ausstellungsraum verschiedenste Türen, Fenster und Heizkörper beinhaltet und äußerst unruhig erscheint. Der Künstlerin gelingt es aber mit einer fotografischen Intervention, den Raum selbst und seine Einrichtung zu thematisieren. In einer stringenten Fortsetzung der Serie der „Objects“ fotografiert sie die funktionalen und eher als störend empfundenen Einrichtungen wie Heizkörper oder Abdeckklappen der Stromkästen und montiert sie in Originalgröße als fotografische zweidimensionale Duplikate in den Ausstellungsraum. Der Ansatz der Behandlung der Fotografie als Objekt blieb bei der Serie der „Objects“ durchaus eine konzeptuelle Fragestellung. So gab es dort immer einen Hintergrund, der zwischen der ungeometrischen Form der Objekte und dem rechteckigen Format der Fotografie vermittelte. Die Fotografie des Objekts wurde dem realen Objekt gleichgestellt und betonte damit das Objekthafte der Fotografie. Bei der Installation „Mitgift“ wird das Abbild nun tatsächlich zum Objekt. Die Fotografien entsprechen nicht nur in der Größe exakt dem realen Vorbild, sondern wurden von Petra Kaltenmorgen auch in derselben Höhe an anderer Stelle im Raum installiert. Dadurch ergibt sich ein fotografisches Trompe-l’œil, das die Spezifik des Raumes in demselben Raum vervielfacht und reflektiert.
„Wallstreet“ (2000) reagierte auf die gegebenen Präsentationsmittel in der öffentlichen Unterführung der Weserburg – Museum für moderne Kunst in Bremen. Von dem ebenerdigen öffentlichen Durchgang gehen die gegenüberliegenden Eingänge in die Weserburg und die GAK – Gesellschaft für aktuelle Kunst in Bremen ab. Auf einer Seite ist der Durchgang mit einer dichten, aber in Größe und Abstand unregelmäßigen Reihe von fest installierten Wechselrahmen für Ausstellungs- und Veranstaltungsplakate gesäumt. Die Wechselrahmen wurden nicht am abfallenden Boden des Durchgangs ausgerichtet, sondern waagerecht an der oberen Kante, wodurch sich ein leicht vergrößernder Abstand zum Bodenniveau ergibt. Diese Details des Durchgangs und der Wechselrahmenreihe fallen sicherlich den meisten Passanten kaum auf. Kaltenmorgen macht allerdings genau diese Details zum Thema ihrer Installation. In jedem Wechselrahmen präsentiert sie die Fotografie der Spitze desselben Tannenbaumes. Bei einer Fotografie ist jedoch Baum etwas nach rechts verschoben, bei einer anderen etwas mehr nach links. Wie die Oberkante der Wechselrahmen bleibt die Spitze des Baumes auf demselben Niveau. Je nach Abstand des Wechselrahmens zum Bodenniveau zeigt sich damit von links nach rechts immer weniger vom Baum. Die Bewegung des Passanten entlang der Fotosequenz wandelt die einzelnen Bilder in eine filmisch bewegte Wahrnehmung. Je nach Laufrichtung verschwindet die Spitze des Baumes oder taucht auf und scheint wie der Film einer Handkamera etwas hin und her zu ruckeln. Die sehr eng gesteckten Präsentationsbedingungen aufgreifend, gelingt es Petra Kaltenmorgen mit einem unspektakulären Motiv die Spezifik dieses öffentlichen Raumes zu thematisieren und ihn gleichzeitig zu dynamisieren.
Ein weiteres Beispiel für die besondere Auseinandersetzung mit dem Raum und dessen Inszenierung ist die Gruppenausstellung „Welten“ im Jahr 1998 im Ausstellungsraum Kubus in Hannover. Der große, quadratische, durch keinerlei Wände unterbrochene Raum ist wesentlich breiter als hoch und bietet damit im Verhältnis zur Bodenfläche deutlich weniger Wand- und Hängefläche. Ein Ausstellungsraum, der, wenn man ihn architektonisch nicht verändert, sicherlich besonders für Skulptur und Rauminstallation geeignet ist, weniger für Präsentationen an der Wand, wie Malerei und Fotografie. Gemeinsam mit den an der Ausstellung beteiligten Künstlerinnen Maja Clas, Sandra Kappelmann, Carolin Schneider und Annamirl Weishäupl entwickelte Petra Kaltenmorgen ein Präsentationskonzept, das den Raum von seiner Schwachstelle und nicht von seiner Stärke her angeht. Den gesamten Raum umläuft ein Falten werfender Vorhang, der den Raum noch größer und wie eine Bühne erscheinen lässt. Ohne den Raum architektonisch zu verändern, wurde dieser räumlich fokussiert. Der umgebende Vorhang theatralisiert den Raum und konzentriert ihn durch die geschaffene Bühnensituation in der Mitte. Jeweils ein Wandabschnitt hinter dem Vorhang wurde von einer der beteiligten Künstlerinnen bespielt. Der Vorhang verband die fünf unterschiedlichen „Szenen“ und rahmte die unterschiedlichen künstlerischen „Welten“. Kaltenmorgen griff in ihrem Beitrag das Motiv des Vorhangs auf und präsentierte hinter dem Vorhang zwei Fotografien von Krippenfiguren mit ausgeprägtem Faltenwurf. Neben dem theoretischen Verweis auf die kunsthistorische Bedeutung des Faltenwurfs beziehen die Fotografien auch direkt den Raum und damit den Betrachter mit ein: Die Blicke der sich gegenüberstehenden Krippenfiguren trafen sich auf dem Boden des Ausstellungsraumes. Die gebildete Leerstelle des imaginären, aber fehlenden Christuskindes wird durch den Betrachter gefüllt, wodurch sich eine ähnliche Beziehungskonstellation zwischen Werk, Raum und Betrachter ergibt wie bereits bei „o. T.“ (1993) [S. 9].
Eine ganz andere Form der Verschränkung der Medien im Werk von Petra Kaltenmorgen lässt sich bei der Werkgruppe „Lichtschutz“ (1) (2009) beobachten. Die Verbindung findet hier nicht zwischen Fotografie und Raum, sondern zwischen Objekt und Fotografie statt. Die Kombination von alltäglichen Materialien und Gegenständen in einem fragilen Spannungsverhältnis, die wir bereits bei den frühen Installationen der Studienzeit beobachteten, begegnen uns hier wieder. Fotografie integriert Kaltenmorgen hier nicht in Form von selbst produzierten Bildern, sondern in Form von ausgeschnittenen Zeitungsabbildungen. Bilder in Tageszeitungen sind nicht nur im übertragenen Sinn kurzlebig und vergänglich. Die schlechte Qualität des Zeitungspapiers lässt die Schwarzweißbilder schnell vergilben. Die Zeitlichkeit, die sich im Vergilbungsprozess visualisiert und die oftmals eindrucksvolle Autorität der Bilder hinterfragt, wird bei „Lichtschutz“ (1) (2009) zum Thema. Der Begriff „Lichtschutz“ im Titel beschreibt den Arbeitsprozess, bei dem Petra Kaltenmorgen einzelne Stellen der Zeitungsbilder mit Münzen monatelang vor dem Licht schützte. Die unterschiedlichen Farbveränderungen hoben entweder einzelne Details der Bilder wie Köpfe oder Gesichter hervor oder überlagerten die Bilder mit unregelmäßig gestreuten kreisrunden Flächen. Waren es anfänglich Kriegsszenen, wie Kampfflieger oder Soldaten, so bewahrte sie später auch andere Bilder punktuell vor dem Vergilbungs- und Verfallsprozess. Die Bilder mit den Münzen montierte sie mit Hilfe von dünnen Messingstäben, Reiszwecken, Glas und Tesafilm umständlich und improvisiert an die Wand. Die Münzen balancierten auf den Metallstäbchen, die wiederum mit den Zeitungsbildern nur durch die Spannung zwischen Glas und Wand gehalten wurden. Die umständlich absurden Konstruktionen an Messingstäben, Tesafilm und Reißzwecken, die die Münzen oder später auch andere Gegenstände auf oder vor den Zeitungsausschnitten balancieren, ergeben eine komplexe Metapher der Zeit. Nachrichten und deren Bilder aus Vergangenheit und Gegenwart erfassen wir nur fragmentiert. Die Umstände, Zusammenhänge und Hintergründe, die diese Bilder „halten“, sind komplex und undurchdringlich und erscheinen oft irrational und unlogisch. So schnell wie die Bilder der Nachrichtenfragmente uns täglich beeindrucken und berühren, so schnell vergilben und verschwinden sie wieder, zusammengehalten von fragmentarischen Erklärungskonstrukten, deren notdürftig temporäre Konstruktion kaum dauerhaft Bestand haben kann.

Abstraktion und Realismus

Einige Fotoserien in Farbe von Petra Kaltenmorgen gehören sicherlich zu den am stärksten verdichteten Arbeiten in ihrem Werk. Wie bereits bei anderen Serien ist der Raum auch hier ein starker Einflussfaktor, er tritt nun allerdings in seiner Negation auf. Der inhaltliche und architektonische Raum wird auf unterschiedliche Weise zurückgedrängt, negiert oder komprimiert. So ist in der Serie „Materia“ (2010) das Atelier der Künstlerin der wesentliche Bezugspunkt oder -raum. Auf den Fotografien ist der architektonische Raum allerdings überhaupt nicht zu sehen. Zu sehen ist nur eine Sofakante, auf der unterschiedliche kleine Stillleben arrangiert wurden. Der dunkle, braunrote Ton des Sofas, eines Sofabeines und des dunkelroten Estrichs rahmen und inszenieren die farbigen Gegenstände und geben ihnen eine leuchtend wertvolle Präsenz. Wertvoll im monetären Sinne sind die kleine Objekte und Arrangements nicht. Sie sind aber reich an Erinnerungen und Referenzen innerhalb des eigenen Werkes und eröffnen damit einen inhaltlichen Bezugsraum. Ein ausgerissenes Zeitungsfoto mit zwei aufgelegten Münzen auf der Sofaecke verweist auf den Entstehungsprozess der Serie „Lichtschutz“ (2009) oder eine Reproduktion des Gemäldes von Stefano di Giovanni Sassetta, „Die Reise der Könige“ (1435) an Petra Kaltenmorgens Interesse an der Kunstgeschichte des Spätmittelalters. Bei vielen der Bilder begegnet uns auch die kleine Figur vom Anfang dieses Buches wieder: „Odradek“, aus Kafkas „Die Sorge des Hausvaters“, erlangt in „Materia“ eine lebendige Frische und Präsenz. Vier gelbe Deko-Dolden aus Kunststoff sind mit drei Kabelbindern verdrahtet, Kettenglieder aus Stahl und Messing oder verschiedenste Halsketten sowie Arrangements aus zerkauten Kaugummis und Stecknadeln mit bunten Köpfen verweisen auf die frühen Objektarbeiten der Künstlerin. Die Fotografie gibt den winzigen Objektkompositionen und Fundstücken eine eigene Präsenz und einen Rahmen. Die kleinen Gebilde, die vielleicht in den Kammern und Hausfluren des Ateliers und der Erinnerung verloren gegangen wären, scheinen durch die Fotografien fast zum Leben erweckt zu werden. „Materia“ setzt die im vorherigen Kapitel thematisierten künstlerischen Verschränkungen verschiedener Medien und Interessen bei Petra Kaltenmorgen fort. Wurde dort jedoch die Fotografie im Raum oder in Objektarbeiten integriert, so ist in „Materia“ (2010) andersherum das Objekt Hauptthema der Fotografie. Die Fotografie und damit Petra Kaltenmorgens künstlerische Perspektive ermöglicht uns, den Betrachtern, die Objekte auch auf einer anderen Ebene wahrzunehmen. Die Arrangements realer Gegenstände können mit Hilfe der Fotografie nun auch als abstrakte Kompositionen wahrgenommen werden.
Eine andere Form der fotografischen Abstraktion der Realität kommt bei „Gifts and Gaps“ (2011) zum Tragen. Mit derselben leuchtend farbigen Präsenz wie bereits bei „Materia“ (2010) erscheinen bei „Gifts and Gaps“ Pflanzen vor pechschwarzem Hintergrund. Die Gartenpflanzen mit leuchtenden Blüten scheinen aus dem Nichts in den Bildausschnitt der Fotografie zu fallen. Kompositorisch stehen die farbigen Blüten und Blätter nicht wie bei „Materia“ im Zentrum. Sie reichen vielmehr vom Rand in das Schwarz, das den größten Teil des Bildes ausmacht und die Bildmitte der Fotografie bestimmt. Entstanden ist die Serie mit Hilfe eines einfachen technischen Mittels. So schob Petra Kaltenmorgen im Garten eine schwarze Fläche hinter die zu fotografierenden Pflanzen. Mit der schwarzen Fläche eliminierte sie jeglichen räumlichen Zusammenhang und erreichte damit eine künstliche Präsenz der Pflanzen, die wie im leeren Raum zu schweben scheinen. Wie bereits bei den „Objects“ (1994–2001) werden die Gegenstände, in diesem Fall Pflanzen, entkontextualisiert. Obwohl die einzelnen Pflanzen ungewöhnlich detailgenau mit einer Großformatkamera erfasst sind, erscheinen sie im Bild aufgrund ihrer Dekontextualisierung wie eine abstrakte Komposition. Die Enträumlichung betont die Transformation der realen Natürlichkeit der Pflanzen in die Künstlichkeit ihrer Repräsentation. Die Fokussierung auf das einzelne Pflanzenobjekt steigert die künstliche Erscheinungsweise zudem und lässt die Fotografien selbst als Objekt erscheinen.
Die Abstrahierung und Entkontextualisierung von Pflanzenobjekten nimmt Petra Kaltenmorgen 2015 mit der Serie „Slow Waltz“ noch einmal auf. Dunkelheit ist auch hier ein Bild bestimmendes Motiv, aber nicht in Form von künstlichem Schwarz wie bei „Gifts and Gaps“, sondern in Form von tatsächlich dämmrigem Licht im Raum. Die fotografierten Wildblumensträuße erinnern daher auch an die Serie „Déjà Vu“ (2001), die die Landschaft Worpswedes in Dunkelheit zeigte. War dort trotz Dunkelheit der räumliche Zusammenhang weiterhin gegeben, reduziert sich bei „Slow ­Waltz“ die Raumdefinierung auf eine kleine Tischfläche, auf der die Blumenvasen stehen. Den natürlichen Realismus der Blumenstillleben in der Dämmerung irritieren winzige Lichtpunkte, die aus der Ferne des unbestimmten Raumes aufzutauchen scheinen. Wie bunte Sterne oder Irrlichter korrespondieren ihre Farben mit der zurückgedrängten Farbigkeit der Pflanzen in der Dunkelheit. Über die reale Natürlichkeit des Motivs legt sich als zweite Darstellungsebene die virtuelle Künstlichkeit der Laserpunkte. Beide Darstellungsebenen, detaillierter Realismus auf der einen Seite und minimalistische Abstraktion auf der anderen, stehen konträr gegeneinander und verbinden sich durch die Überlagerung zu einer divergenten Einheit. Die Überlagerung der Darstellungsebenen und verschiedenen Lesarten lässt die Serie „Slow Waltz“ (2015) mit einer der komplexesten Serien im Werk von Petra Kaltenmorgen in Verbindung bringen, die bereits einige Jahre vorher entstand: „Windows“ (2007).
Die Serie „Windows“ zeigt Aufnahmen eines etwas verwilderten Gartens, die aus einem Innenraum durch transparente Rollos hindurch fotografiert wurden. Als hätte sich ein Farbfilter über die Bilder gelegt, erscheint der mit einer Mauer umgebene Garten in düsterem Grau wie bei einem Regentag. Der analoge „Rollofilter“ nimmt dem Garten jegliche räumliche Tiefe und Bildschärfe und lässt die Aufnahmen erscheinen wie die verschwommenen Bilder von Gerhard Richter. Im Werk der Künstlerin weist die Serie damit Parallelen zu den Serien „Blind Fields“ (1997–99) oder „Déjà Vu“ (2001) auf, wenn auch der Produktionsprozess ein anderer ist. Von dem Innenraum, aus dem die Künstlerin in den Garten hinaus fotografierte, ist auf den Bildern nichts zu sehen. Der graue Filter liegt vollflächig über den Fotografien, und man würde vielleicht gar nicht bemerken, dass es sich hierbei um ein im Raum befindliches Rollo handelt, würde nicht ein wesentliches Detail die Werkserie komplett neu interpretieren. An der Stelle, an der zwei Rollos im Raum aneinanderstoßen, gibt ein schmaler Spalt den Blick auf den lichten Garten frei. Nun erkennt man auch die dünne Kugelkette zum Bewegen der Rollos. Der trübe, zweidimensionale Eindruck der Fotografien öffnet sich in dem dünnen Spalt in den Raum und bündelt blitzartig alle kompositorische Energie in dem Streifen des Bildes. Petra Kaltenmorgen gelingt damit die Überlagerung zweier Darstellungsprinzipien, die normalerweise konträr gegeneinander stehen und sich gegenseitig ausschließen: Die räumliche Tiefe der gegenständlichen Landschaftsdarstellung und die konkrete Zweidimensionalität der ungegenständlichen Abstraktion. Der Blick in den Garten ist gleichzeitig eine abstrakte Komposition, die die „Zip“-Paintings von Barnett Newman mit derselben kompositorischen Entschiedenheit und Energie zu zitieren scheint. In Variationen innerhalb der Serie erscheint statt des „Rollo-Zip“ ein Bodenlicht im Garten, dessen geheimnisvolle Spiritualität ebenso den Abstrakten Expressionismus, wenn auch weniger die Hard-Edge Malerei, sondern eher die weichen, mystischen Kompositionen Mark Rothkos anklingen lassen. Damit gelang Kaltenmorgen mit der Serie „Windows“ (2007) sicherlich die komplexeste Überlagerung und Verdichtung ihres künstlerischen Interesses am Spannungsfeld zwischen Gegenstand, Betrachterwahrnehmung, Raum und deren Abstraktionen.

Befragungen

Lässt man Petra Kaltenmorgens künstlerisches Werk Revue passieren, fällt auf, dass sie nie an der Entwicklung einer ästhetischen Geschlossenheit ihres Werkes interessiert war. Oberflächlich betrachtet hat jede Werkserie eine komplett andere Erscheinungsweise. Ihre künstlerische Handschrift besteht nicht in der Wiedererkennbarkeit der ästhetischen Oberfläche, sondern in der strukturellen Analyse der Wechselverhältnisse von Raum, Objekt, der künstlerischen Wahrnehmung und ihrer dreidimensionalen oder fotografischen Repräsentation. Mit den Installationen befragt sie ein oder mehrere Objekte auf ihre ästhetischen Möglichkeiten und das Verhältnis zum Raum. Eine Installation wie „Licht fällt“ (2008) ist nie allein eine Skulptur im Raum. Es ist ein Bild, das uns Rätsel aufgibt wie Franz Kafkas Text „Die Sorge des Hausvaters“. Die Kontrastierung einer Deckenlampe auf dem Boden, überschüttet mit hunderten von Hauschlüsseln ist ebenso eindrucksvoll wie rätselhaft. Die Herauslösung der Objekte aus ihrem Kontext und deren neue Zusammenfügung in einer ästhetischen Einheit erscheint in diesem Bild so selbstverständlich und ist uns gleichzeitig so fremd. Es ist eine Irritierung unserer Wahrnehmung, eine Verkehrung der Zusammenhänge, die uns Raum, Objekt und eingenommene Perspektive überhaupt erst erkennen lässt. Petra Kaltenmorgens strukturell-ästhetische Analysen können dabei nie abgeschlossen sein. Die neu gefundene ästhetische Einheit ist immer ein Zwischenstand, der uns erkennen lässt und damit neue Fragen aufwirft.
Der transformierende künstlerische Blick von Kaltenmorgen auf die Alltäglichkeit der Dinge bekommt im fotografischen Teil ihres Werkes eine klare Definition. Die Kausalzusammenhänge von Raum und Objekt werden, mit Hilfe der Fotografie, immer wieder aufgelöst, neu geordnet und durch ästhetische Verdichtungen, Überlagerungen oder Kontrastierungen in eine neue Wahrnehmungsweise überführt. Die Künstlerin lenkt mit Hilfe der Fotografie unsere Wahrnehmung und lässt uns neue Ebenen erkennen und dadurch selbstverständliche, gegebene Zusammenhänge in Frage stellen.
Sinnbildlich für diese künstlerischen Befragungen könnte die Serie „Light Under“ (2012) stehen. Mit der Serie durchleuchtet sie regelrecht einzelne Gegenstände und Objekte. Aus der Fassung gelöste Sonnenbrillengläser sind jeweils mit einzelnen Fundstücken wie einem gefalteten Papierflieger, Löwenzahnblüten, Haaren oder einem Spielzeugpferd auf einem Leuchttisch gruppiert und fotografiert worden. Die Erscheinungsform der einzelnen Dinge kehrt sich um. Während die Sonnenbrillengläser das Licht normalerweise abhalten und einfach dunkel erscheinen, lässt die Durchleuchtung nun die farblichen Schattierungen erkennen. Die Farben der anderen Gegenstände werden im Gegenlicht dagegen zurückgenommen oder, bei transluzenten Dingen wie Papier, allein in ihrer strukturellen Beschaffenheit präsentiert. Auch hier werden ganz disparate Objekte durch das Licht, sowohl ein Verweis auf das „Lichtbild“ der Fotografie als auch auf die Erkenntnis, in eine neue ästhetische Einheit gefügt. Damit ist „Light under“ vielleicht die konzeptionellste Serie von Petra Kaltenmorgen, steht aber gerade deswegen paradigmatisch für ihr gesamtes Werk.